Am 24. Februar 2022 wird Yaroslav Amosov in seinem Zuhause in Irpin, an der Grenze zu Kiew, von ungewöhnlichen Geräuschen geweckt.
„Ich schaute aus dem Fenster und sagte zu meiner Frau, ‘Lass uns sofort gehen’“.
36 Stunden fuhr der 29-Jährige mit dem Auto durch - ohne Schlaf.
„Ich musste meine Frau und unseren sechs Monate alten Sohn in Sicherheit bringen. Wir fuhren nach Polen. Danach kehrte ich sofort in die Ukraine zurück.“
Bis zu diesem Tag bestand sein Leben hauptsächlich aus Familie, Training, Wettkämpfen, Essen und Schlafen.
Keine 24 Stunden nach dem Einmarsch Russlands ging es nur noch ums Überleben.
Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurden allein am Ende des ersten Tages mehr als 135 ukrainische Soldaten getötet. Die Regierung beschloss noch am selben Abend, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht mehr verlassen dürfen. Es sei denn, sie können spezielle Dokumente an der Grenze vorzeigen, wie zum Beispiel einen Nachweis eines Vollzeitstudiums im Ausland, als alleinerziehender Vater oder mit einer Sondergenehmigung für internationale Wettbewerbe.
Yaroslav Amosov meldete sich nach seiner Rückkehr in Irpin ohne zu zögern bei den ukrainischen Streitkräften an.
„Es war keine wirklich schwere Entscheidung. Wenn jemand deine Heimat angreift, musst du sie verteidigen. Du hast keine andere Wahl.“
Amosov ist einer von vielen ukrainischen Athleten, die ihre Karriere hinten anstellen, um an der Front zu kämpfen. Wie beispielsweise die bekannten Profiboxer Oleksandr Usyk oder Wassyl Lomanchko.
Irpin, die Stadt, in der Amosov geboren und aufgewachsen ist, wurde in den ersten vier Wochen der Invasion zur Schlüsselposition im Kampf um die Hauptstadt Kiew. Irpin war einer der letzten Vororte, den der Aggressor erst noch einnehmen musste, um an Kiew heranzukommen. Würde Irpin fallen, wäre Kiew, die größte und wichtigste Stadt der Ukraine, von den Russen überrollt und mit großer Wahrscheinlichkeit eingenommen worden.
Die Bevölkerung suchte einen Weg aus der Gefahrenzone. Autokolonnen stauten sich auf den Straßen aus der Hauptstadt und den umliegenden Städten. Zivilisten wurden auf ihrer Flucht erschossen.
„Von allen Seiten wurden wir attackiert.“
Auch Yaroslavs Mutter musste Irpin verlassen.
Bevor sie und ihr Mann flüchteten, nahm sie den Weltmeister-Gürtel ihres Sohnes, wickelte ihn in ein Tuch und versteckte den Gürtel im Keller des Hauses. - Mit ihm verschwanden auch die sportlichen Zukunftspläne von Amosov für die nächsten Monate.
„Ich wusste zu dieser Zeit nicht, ob ich jemals wieder zum Sport zurückkehren würde. Doch alles, was zählte, war, die Familie zu beschützen und den Krieg zu gewinnen.“
Im Juni 2021 krönte sich Yaroslav Amosov nach einem dominanten Sieg über den damaligen Bellator-Titelträger Douglas Lima zum Champion im Weltergewicht bis 77 Kilogramm.
Amosov ist unter anderem auch vierfacher Weltmeister im Sambo - einer Kampfsportart, die 1923 von der sowjetischen Armee entwickelt wurde und seine Wurzeln im Judo und dem Ringkampf hat. Durch seinen Stiefvater, kam er als 15-Jähriger zu diesem Sport - entdeckte aber schnell auch seine Leidenschaft für MMA - wo nicht nur am Boden gekämpft wird, sondern auch im Stand. 2012 fieberte der Leistungssportler seinen ersten Profi-MMA-Kampf entgegen. Bereits fünf Jahre später nahm Bellator ihn unter Vertrag.
In seiner MMA-Karriere verlor Amosov noch kein einziges Mal - und auch den wichtigsten Kampf seines Lebens - jenen, um seine Heimatstadt Irpin - sollte der 29-Jährige gewinnen, obwohl Mitte März 2022 die Situation dort immer schlimmer wurde. Die Hälfte der Stadt war bereits in russischer Hand. Doch die ukrainischen Soldaten kämpften hartnäckig weiter - und unter ihnen Yaroslav Amosov.
„Es war die Hölle auf Erden. Tote Zivilisten. Alte Frauen, Kinder, Familien. Warum erschießt man eine alte Frau? Warum erschießt man Kinder? Es sind Zivilisten, es ist nicht die Armee. Warum tun die Russen so etwas? Ich verstehe das nicht. Manchmal schlafe ich ein, schließe die Augen und sehe all die Toten auf den Straßen - manchmal schlafe ich gar nicht.“
Am 28. März 2022 - genau einen Monat und einen Tag nach der Invasion Irpins - konnten Amosov und die restlichen Soldaten die Stadt zurückerobern. Laut ukrainischen Angaben kamen während der russischen Besatzung ca. 80 Soldaten und 300 Einwohner ums Leben. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat "den massiven Heroismus und die Widerstandsfähigkeit der Bewohner und Verteidiger" mit dem Ehrentitel "Heldenstadt der Ukraine" gewürdigt.
Nach der Rückeroberung suchte Amosov unter den Trümmern seines Elternhauses nach seinem Bellator-Gürtel.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Wo ist mein Gürtel? Wo ist mein Gürtel? Sie erklärte mir dann, wo sie ihn versteckt hatte.“
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Ein Kollege filmte den Moment, als Amosov in seiner Militär-Montur aus dem Keller stieg, den Gürtel auspackte und in die Luft hielt. Während das Video um die Welt ging, versuchten Freunde und Bekannte den Sportler zu überreden, seine MMA Karriere fortzusetzen.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: „Meine Frau sagte jedes Mal, du musst trainieren gehen. Sie hatte Angst, weil an der Front einer meiner Freunde neben mir starb und sie wusste, dass auch ich vielleicht nicht zurückkomme. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Vielleicht sollte ich gehen und den Titel verteidigen. Vielleicht sollte ich bleiben und weiterhin für mein Land kämpfen. Denn, das war mein Zuhause und egal was passierte, ich wollte dort bleiben. Ich wollte der Welt aber auch unsere Geschichte erzählen und zeigen, wie stark die Ukrainer sind.“
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Insgesamt wurden in Irpin 885 Gebäude dem Erdboden gleichgemacht und über 12.000 beinahe zerstört. In den Trümmern fanden Amosov und einige Kollegen einen beschädigten Boxring, den sie auf der Straße aufbauten. Amosov begann dort wieder mit seinem MMA-Training - Und mit jedem Schlag im Ring kam seine Hoffnung, vielleicht doch wieder Wettkämpfe zu bestreiten, langsam zurück.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: „Ich hab den Sport sehr vermisst. Das Training gab mir eine Auszeit vom Schlachtfeld und ich konnte all die Bilder der Toten und meiner zerstörten Heimat für kurze Zeit aus dem Kopf vertreiben.“
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: An ihre Stelle traten Bilder aus siegreichen Zeiten und ein Funke Zuversicht - irgendwann wieder im Oktagon zu stehen, mit Handschuhen an jenen Händen, die so lange eine Waffe hielten. Amosov beschloss, zu Bellator zurückzukehren. Fast ein halbes Jahr musste er jedoch auf einen neuen Reisepass und das amerikanische Visum warten.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Dann entschied Bellator, seine Titelverteidigung auf den 25. Februar 2023 in Dublin, Irland zusetzen - Genau ein Jahr nach Kriegsbeginn.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Neun Monate bereitete sich Amosov darauf vor.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: In fünf mal fünf Runden dominierte er seinen Gegner Logan Storley und verteidigte erfolgreich den Titel nach Punkten. Es war sein 27. Sieg in Folge - nur Khabib Nurmagomedov hält eine längere Siegesserie in der MMA-Szene mit 29 gewonnenen Kämpfen.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: „Ich bin die Nummer eins der Welt in meiner Gewichtsklasse. Jetzt werde ich erst einmal meine Familie in Polen besuchen und mich erholen. Danach gehe ich in die Ukraine zurück.“
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: Yaroslav Amosov will die ukrainischen Streitkräfte unterstützen, aber nicht mehr direkt an der Front kämpfen. Der Bellator-Champion bereitet sich in Irpin bereits auf seinen nächsten MMA-Kampf vor.
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: „Vielleicht ist die Nachricht, dass ein ukrainischer Athlet seinen Titel verteidigt hat, Motivation für die Menschen. Ich kämpfe für sie und hoffe, dass der Krieg bald ein Ende hat und wir in Frieden leben können.“
„Ich rief meine Mutter an und fragte sie: t